Freitag, 23. Dezember 2011

Skizze einiger Gedanken zur Organisation sozialer Netze

Grundsätzliches zu Typen sozialer Beziehungen

Vorbemerkung
Dieser Post enthält Fragmente noch nicht abgeschlossener Überlegungen zur Bedeutung sozialer Netze im Hinblick auf ihre Relevanz für einige aktuelle Trends. Nach Abschluss der Bearbeitung wird demnächst ein neuer Artikel diesen Post ersetzten.
 
Die Organisation sozialer Beziehungen kennt mehrere Varianten, die kontextabhängig auftreten:
  1. Netzartige Strukturen bauen auf Prinzipien von Regeln der Gegenseitigkeit auf. Sie bündeln Ressourcen individueller Akteure auf informelle Art und Weise in flachen Strukturen ohne formelle Hierarchie.
  2. Formelle Organisation, die nicht auf Zwang beruhen, verteilen Rechte und Pflichten der Teilnehmer hierarchisch mittels formeller Verträge.
  3. Institutionen sind Einrichtungen, die für das Überleben von Kulturen relevant sind. Sie bündeln Sitten und Gebräuche für bestimmte Handlungsfelder wie z.B. Kooperation und Reproduktion.

Prinzipiell handelt es sich nicht um konkurrierende Modelle sozialer Organisation, sondern um unterschiedliche und teilweise überlagernde Organisationsformen, die sich in unterschiedlichen Handlungskontexten bewähren und auf unterschiedliche Perspektiven ihrer Fristigkeit abgestellt sind:
  1. Netze entfalten ihre Stärken, wenn gleichartige Aktionen mehrerer oder vieler Akteure spontan oder kurzfristig ohne Anspruch auf Dauer und mit einem niedrigen Grad der Verbindlichkeit zu organisieren sind.
  2. Komplexe Produktionsleistungen oder Dienstleistungen, die auf Arbeitsteiligkeit beruhen und Investitionen in signifikanten Größenordnungen erfordern, stellen erhöhte Anforderungen an die Qualität einer Organisation und an den Umfang der zu erbringenden Vorleistungen. Die Erfüllung dieser Anforderungen verlangt einen erhöhten Grad an Verbindlichkeit und Dauer, die formell geregelt werden.
  3. Komplexe soziale Systeme, deren Rahmen eine gemeinsame Kultur eingrenzt, entwickeln sich über die Abfolge vieler Generationen kooperierender Menschen. In ihrer Geschichte bauen diese Menschen über Generation, d.h. über 'Zeit', hinweg ein System gemeinsamer Werte und Normen auf, das sich als 'Kultur' zusammenfassen lässt und eine große gemeinsame Investion darstellt. Der Nutzen dieser Investionen besteht in relativer Handlungssicherheit für Individuen. Zum Schutz dieser Investitionen entstehen zugleich sog. 'Institutionen', mit denen Muster sozialer Strukturen einen dauerhaften Charakter erhalten und in denen die zugrunde liegenden Prinzipien quasi naturgegeben tradiert werden. Beispiele für Institutionen sind Ehe, Familie, Schule, Kirche, Staat.

Warum gibt es Netze?
Bei etwas präziserer Formulierung sind mindestens zwei Frage zu stellen:
  1. Welche funktionale Bedeutung haben Netze?
  2. Welche Stärken und Schwächen haben Netze bzw. in welchen Kontexten entfalten sie Nutzen und wo liegen ihre Grenzen?

Annahmen zur funktionalen Bedeutung von Netzen
  • In Netzen geht es nicht um gemeinsame Ziele, zumindest nicht primär. Die Akteure bringen ihre Ressourcen ein, um mittels Kooperation Synergien im individuellen Eigeninteresse herzustellen. D.h., die Kooperation wird eingegangen, weil die Teilnehmer ein besseres Ergebnis für ihre eingesetzten Ressourcen erwarten als bei isoliertem Handeln.
    In Grenzbereichen sind Überschneidungen mit formellen Organisationen oder Alternativen durch formelle Organsiationen möglich. Ein Orchester kann formell oder als Netz organisiert und erfolgreich sein, eine industrielle Massenproduktion dagegen nie.
  • Netze werden in sozialen Face-to-Face-Beziehungen geknüpft. Sie kommen schnell und einfach zustande, erfordern keine höheren Investitionen, lassen sich schnell verändern oder ohne besondere Schwierigkeiten auch wieder auflösen.
  • Im Austausch zwischen Individuen und kollektiven Akteuren (wie Unternehmen, Verbände, Behörden und sonstige staatliche Einrichtungen) sind Individuen prinzipiell nicht in der Lage, gleichgewichtig zu interagieren. (Aus diesem Grund genießen bestimmte Individualrechte in der Rechtssprechung Vorrang gegenüber Kollektivrechten, was jedoch nur eingeschränkt funktioniert und gegenüber Banken, medizinischen Einrichtungen und staatlichen Institutionen eher versagt.)
    Mit der Organisation von Netzen können themenbezogen Interessen so gebündelt werden, dass gebündelte Individualinteressen eine ernstzunehmende Macht darstellen, die kollektive Akteure nicht ignorieren können. Derartige Szenarien erleben wir aktuell mit der panarabischen Revolution und auch mit den Protesten in Russland. 
  • Mit der Höhe von Investitionen und mit zunehmender Komplexität von Beziehungen wächst der Bedarf an Verbindlichkeit, so dass formelle Organisationsformen vorteilhafter werden. Machtbeziehungen setzen per se hierarchischen Strukturen für ihre Organisation voraus. Sie können jedoch innerhalb ihrer Organisation das Auftreten von Netzen nicht verhindern. Netze können Machtstrukturen bedrohen oder stürzen und werden darum als mächtig wahrgenommen. Wir erleben derartige Phänomene gerade in den panarabischen Revolutionen. Nach dem Sturz einer Machtorganisation ist zugleich das Ende dieses Netzes erreicht. Es löst sich auf und bildet eine neue formelle Organisation.
  • Jenseits individueller Nutzenkalküle scheinen Netze ein Bedürfnis emotionaler Geborgenheit zu befriedigen, die gleich oder ähnlich denkende und handelnde Menschen bieten. 

Überlegungen zu Stärken und Schwächen von Netzen

Wie jede Organisationsform haben Netze modellbedingte Stärken und Schwächen. Mit ihrer einfachen und unmittelbaren Form der Kooperation verfügen Netze insbesondere über drei Stärken, die sie als Organisationsform attraktiv machen:
  1. Die einfache Struktur von Netzen hält den Grad der Komplexität niedrig, weshalb Netzte nahezu keinen oder nur wenig 'Overhead' benötigen. Netze können je nach Bedarf schnell etabliert und auch schnell wieder aufgelöst werden. Im Ergebnis können Netze hoch effizient sein.
  2. Netze sind sehr flexibel. Wenn sich Rahmenbedingungen und/oder Ziele ändern, muss nicht erst eine Organisation umgebaut werden. Da sich Rahmenbedingungen permanent ändern, kann eine sehr schnelle Anpassungsfähigkeit an eine veränderte Umgebung ein entscheidender Vorteil sein.
  3. Netze können temporär und themenorientiert Gegengewichte zur Macht kollektiver Akteure herstellen.
Die Verbindung von Schnelligkeit und Effizienz sowie die Fähigkeit zur Machtentfaltung gegenüber kollektiven Akteuren zeichnet netzförmige Organisationen aus und macht sie erfolgreich. Wenn jedoch Medien suggerieren, dass das Internet und Social Services wie 'Facebook' und 'Twitter' ein revolutionäres Potential transportieren, ist das weniger als die halbe Wahrheit. Das Potential transportieren die sozialen Netze. Technische Medien und technische Netze wirken lediglich als Katalysatoren.

Die Kooperationsform informeller Organisationen, in der per Definition formale Strukturen fehlen und Verbindlichkeit nicht auf formalen Verträgen beruht, macht Netze für zwei systembedingte Konstruktionsschwächen anfällig:
  1. Netze dieser Art beruhen nämlich nicht auf Verwandtschaftsbeziehungen oder auf gewachsenen Freundschaften und auch nicht auf langfristigen gemeinsamen Strategien. Derartige Netze sind u.U. in der Lage, formelle Mängel zu kompensieren, weil sich gemeinsames Handeln auf übergeordnete gemeinsame Werte mit langfristiger Ausrichtung stützen kann.
    Netze sind dagegen von eher kurzfristigen und individuellen Erfolgserwartungen motiviert. Netze sind opportunistische Zweckgemeinschaften, die aus taktischen Kalkülen zur Optimierung des eigenen Ressourceneinsatzes entstehen. Für die Verfolgung eigener Ziele sind Netze gegenüber einem Einzelkämpfertum oder dem Engangement in einer Organisation dann attraktiv, wenn ein besseres Ergebnis mit gleichen Ressourcen oder das gleiche Ergebnis mit weniger Ressourcen erzielt werden kann. Am schönsten ist natürlich, wenn ein besseres Ergebnis trotz reduziertem Ressourceneinsatz möglich wird.
    Auch eine netzförmige Organisation kann nur unter den Voraussetzungen von Verbindlichkeit existieren. Verbindlichkeit wird auf dem Weg des sozialen Austauschs hergestellt, wobei Leistung und Gegenleistung unterschiedlicher Art sein können (z.B. Wohlfahrt gegen Wohlverhalten) und  zeitlich auseinanderfallen können. Austausch basiert auf Prinzipien der Gegenseitigkeit, die erst Kooperation und damit auch Kultur ermöglichen. Wenn informelle Netze auf sozialem Austausch basieren, setzt dieser Austausch implizites wechelseitiges Vertrauen in ein gemeinsames Regelwerk voraus. Dieses Vertrauen beinhaltet das Versprechen zur Beachtung dieses Regelwerks und bildet daher das Fundament des Austauschs innerhalb von Netzen.
    Die Bindungskraft von reziproken Beziehungen sozialer Netze ist relativ schwach, weil für die Kooperation in Netzen keine hohen Investionen einzugehen sind. Die Bindungskraft wird umso schwächer, je mehr Alternativen auftreten und je attraktiver diese Alternativen erscheinen. In komplexen und pluralistischen Sozialsystemen konkurrieren viele Alternativen miteinander, weshalb Netze anfällig für Störungen sind und der Grad ihrer Persistenz niedrig bleibt.
  2. Da sich Rahmenbedingungen permanent ändern, müssen sich auch Taktiken schnell ändern bzw. den veränderten Bedingungen anpassen. Individuelle Erfolgserwartungen des Einsatzes eigener Ressourcen verfügen darum über kurze Halbwertzeiten. Das Investment eigener Ressourcen erfordert ein Äquivalent. Stellt sich dieses nicht in akzeptabler Zeit ein, ermöglicht die fehlende formelle Verbindlichkeit der Netzbeziehungen ein Umlenken der eigenen Ressourcen auf neue oder veränderte taktische Ziele, ohne dass hierbei existenzielle Risiken einzugehen wären. Die eigenen Kosten und Risiken bleiben überschaubar.
    Taktiken sind keine verlässlichen Größen. Sie gleichen keinen für die Ewigkeit geschmiedeten Ketten, sondern eher temporären Klammern, die sich auch schnell wieder lösen lassen, um die eigenen Interessen an aussichtsreichere Bedingungen anzudocken.
  3. Ohne hierarchische Entscheidungsstrukturen verlieren Netze mit zunehmender Komplexität von Handlungsbedingungen an Effizienz.
Eine besondere Betrachtung verdienen politisch-wirtschaftlich motivierte Netze. In ihnen geht es prinzipiell um Machtverteilungen, die je nach Kontext stärker wirtschaftliche oder politische Interessen fokussieren. Die Eingangsbedingungen setzen voraus, dass ein Teilnehmer bereits über Macht verfügt und mittels seiner Macht Einfluss zugunsten von Kooperationspartnern nehmen kann. Andererseits wollen alle am Netz Beteiligten profitieren, und erst diese Nutzenerwartung motiviert das Entstehen derartiger Netze. Da jedoch das alte alchemistische Rätsel der Gewinnung von Gold aus minderwertigen Stoffen noch immer nicht gelöst ist, muss am Ende jemand die Feier bezahlen. Wer kann das sein? Doch nur diejenigen, die nicht am Netz teilhaben können, weil sie die Eintrittsbedingungen nicht erfüllen, und die sich schließlich nicht gegen die Begleichung einer fremden Rechnung wehren können, weil sie entweder unwissend sind oder nicht über genug Macht verfügen, um Kontrolle ausüben zu können. Meistens sind beide Bedingungen mit einem mehr oder weniger großen Anteil erfüllt.

Dank der gegenwärtigen globalen Finanzkrise erhalten wir gerade die Chance, die Lektion zur Praxis der Verteilung des Profits und der Verluste in der Finanzbranche zu lernen. Gewinne aus kollektiven Investionen werden individualisiert zu Gunsten weniger Profiteure. Verluste werden dagegen sozialisiert und über die soziale Gemeinschaft mit dem Argument verteilt, dass das soziale System insgesamt bedroht sei. Der Gedanke ist noch unreif, aber es scheint, als seien Netze ein geeignetes Mittel, um Transparenz über Machtstrukturen und ihre einseitigen Verteilungsregeln zu erzwingen. Für eine dauerhafte und geregelte Kontrolle von Machtstrukturen werden Netze auch in der Zukunft nicht in der Lage sein, weil sie sich hierzu wie Interessenverbände organisieren oder in solche transformieren müssten.

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