Samstag, 24. Dezember 2011

Warum brauchen wir den Weihnachtsmann? (Update 5.01.2013)

Weihnachtsgrüße Seebrücke Binz, Rügen, 24.12.2010
Die achtjährige Virginia O’Hanlon will wissen, ob es den Weihnachtsmann gibt. Ihr Vater rät ihr, die Zeitung zu befragen, weil diese immer die Wahrheit schreibe. Ob der Vater seinen Worten glaubt oder die Tochter mit einer Lüge abwimmeln will, ist nicht überliefert. Erhalten blieb jedoch ein legendärer Briefwechsel aus dem Jahr 1897, den die 'Welt am Sonntag' seit 34 Jahren in ihrer Weihnachtsausgabe druckt.
Virginia stellt eine briefliche Anfrage an die 'New York Sun':

'Lieber Redakteur: 
Ich bin acht Jahre alt. Einige meiner kleinen Freunde sagen, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Papa sagt: ‚Wenn du es in der Sun siehst, ist es so.‘ Bitte sagen Sie mir die Wahrheit: Gibt es einen Weihnachtsmann?
Virginia O’Hanlon. 115 West Ninety-fifth Street.'



Das Weihnachtsfest als globales Phänomen


Das soziale Leben würde vermutlich auch ohne Weihnachtsfest existieren. 'Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos', stellt Vicco von Bülow, alias Loriot, in seiner 'Gesammelte(n) Prosa' fest. Der Weihnachtsmann ist selbstverständlich nicht mit einem Mops vergleichbar, für beide gilt jedoch, dass wir auch ohne sie leben könnten, allerdings um den Preis, dass das Leben ärmer würde. Die besondere Wertschätzung des Mops ist auf persönliche Vorlieben Loriots zurückzuführen und überdeckt darum in ihrer Überzeichnung die seit Jahrtausenden bestehende und sehr vielgestaltige Bedeutung von Hunden als menschliche Haustiere. Der Weihnachtsmann ist auch nicht mit einem Hund vergleichbar, für beide gilt jedoch, dass sie schon seit vielen Generationen zu unserer Kultur gehören, ohne dass wir uns so recht bewusst sind, weshalb das so ist. Möglicherweise findet jeder eine eigene Erklärung, die durchaus plausibel bleibt, solange sie sich nicht in einem öffentlichen Diskurs bewähren muss. Und selbst in einem öffentlichen Diskurs bleibt noch eine private Bedeutungshoheit bestehen, die nicht diskutierbar ist. Wenn dem Weihnachtsfest per individueller Interpretation persönliche Bedeutungen zugewiesen werden, sind diese selbstverständlich legitim. Diese persönlichen Bedeutungen bleiben jedoch auf der Ebene von Loriots Mops, sind also privat und nicht verallgemeinerungsfähig. In diesem Post geht es dagegen um Fragen der Universalität und ihrer funktionalen Bedeutung.

Das Phänomen des Weihnachtsfests und die Bedeutung des Weihnachtsmanns verteilt sich seit vielen Generationen in unterschiedlichen Ausprägungen über die gesamte Welt und breitet sich immer mehr auch in Kulturen aus, die nicht zu den Kernländern des Christentums zählen. Diese Beobachtung stützt als Indizien mehrere Annahmen:
  1. Es ist zu kurz gedacht ist, Konsumindustrie und Medien für das Weihnachtsbrauchtum verantwortlich zu machen, wobei die Konsumindustrie fraglos derartige vom Alltag abgehobene Phänomene gerne als 'Trittbrettfahrer' für ihre eigenen Zwecke benutzt oder je nach Sichtweise auch missbraucht.  
  2. An der Ausbreitung und kulturellen Durchsetzung dieser Brauchtumsmuster dürfte das Christentums einen hohen Anteil haben. In seinem Kern ist dieses Brauchtum jedoch nicht originär christlich, weshalb sich die Ausbreitung dieses Brauchtums nicht auf die vom Christentum geprägten Kulturen beschränkt.
  3. Wenn sich das Weihnachtsbrauchtum an kulturübergreifenden Ereignissen festmachen lässt, die in ihrer Ausgestaltung ähnliche Formen nutzen, die räumlich nicht eingegrenzt sind und auf zeitlich überdauernden Traditionen beruhen, haben wir es offenbar mit institutionalisierten Phänomen von 'Kultur' zu tun. Damit drängt sich die Annahme auf, dass der Weihnachtsmann als Symbolfigur des Weinhachtsbrauchtums für einen universellen Bedarf steht und dieser Bedarf den Weihnachtsmann als eine Ikone hervorbringt, die über oberflächliche Bilder und temporäre gemeinsame Aktionen hinausweist.


Nachgefragt


Mit einer Interpreration des Weihnachtsfestes in Richtung kultureller Tiefenstrukturen, die jenseits einer offenkundig sichtbaren Wahrnehmungsebene liegen, entstehen neue Fragen, die auf Antwort drängen und schließlich die Entstehung dieses Posts über den Weihnachtsmann motivieren:
  • Welcher Art sind die überindividuellen und kulturübergreifenden Bedeutungszuweisungen des Weihnachtsfestes?
  • Welcher Art sind die Kräfte, die über Grenzen sozialer Klassen und sogar über Kulturen hinweg das Weihnachtsfest als einen gemeinsamen Bezugspunkt menschlicher Interaktion hervorbringen?
Die im Jahr 1897 in der 'New York Sun' veröffentlichte legendäre Antwort Francis Pharcellus Churchs auf Virginia O’Hanlons briefliche Anfrage greift implizit auch unsere Frage nach universellen Bedeutungsmustern auf: 

'Virginia, Deine kleinen Freunde haben nicht recht. Sie sind angekränkelt vom Skeptizismus eines skeptischen Zeitalters. Sie glauben nur, was sie sehen: Sie glauben, dass es nicht geben kann, was sie mit ihrem kleinen Geist nicht erfassen können. Aller Menschengeist ist klein, Virginia, ob er nun einem Erwachsenen oder einem Kind gehört. Im Weltall verliert er sich wie ein winziges Insekt. Solcher Ameisenverstand reicht nicht aus, die ganze Wahrheit zu erfassen und zu begreifen.

Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Es gibt ihn so gewiss wie die Liebe und die Großherzigkeit und die Treue. Und du weißt ja, dass es all das gibt, und deshalb kann unser Leben schön und heiter sein. Wie dunkel wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe! Sie wäre so dunkel, als gäbe es keine Virginia. Es gäbe keinen Glauben, keine Poesie – gar nichts, was das Leben erst erträglich machte. Ein Flackerrest an sichtbarem Schönen bliebe übrig. Aber das ewige Licht der Kindheit, das die Welt erfüllt, müsste verlöschen.

Es gibt einen Weihnachtsmann, sonst könntest Du auch den Märchen nicht glauben. Gewiss, Du könntest Deinen Papa bitten, er solle an Heiligabend Leute ausschicken, den Weihnachtsmann zu fangen. Und keiner von ihnen bekäme den Weihnachtsmann zu Gesicht – was würde das beweisen?

Kein Mensch sieht ihn einfach so. Das beweist gar nichts. Die wichtigsten Dinge bleiben meistens Kindern und Erwachsenen unsichtbar. Die Elfen zum Beispiel, wenn sie auf Mondwiesen tanzen. Trotzdem gibt es sie. All die Wunder zu denken – geschweige denn sie zu sehen –, das vermag nicht der Klügste auf der Welt.

Was Du auch siehst, Du siehst nie alles. Du kannst ein Kaleidoskop aufbrechen und nach den schönen Farbfiguren suchen. Du wirst einige bunte Scherben finden, nichts weiter. Warum? Weil es einen Schleier gibt, der die wahre Welt verhüllt, einen Schleier, den nicht einmal die größte Gewalt auf der Welt zerreißen kann. Nur Glaube und Poesie und Liebe können ihn lüften. Dann werden die Schönheit und Herrlichkeit dahinter auf einmal zu erkennen sein. „Ist das denn auch wahr?“, kannst Du fragen. Virginia, nichts auf der ganzen Welt ist wahrer, und nichts ist beständiger.

Der Weihnachtsmann lebt, und ewig wird er leben. Sogar in zehn mal zehntausend Jahren wird er da sein, um Kinder wie Dich und jedes offene Herz mit Freude zu erfüllen. 

Frohe Weihnacht, Virginia!
 
Dein Francis Church'


Nachdem geklärt ist, dass der Weihnachtsmann ebenso wie Glaube, Poesie und Liebe lebt, stellen sich Anschlußfragen ein:
  • Wer ist der Weihnachtsmann? Ist er möglicherweise die personifizierte Verkörperung von Glaube, Liebe und Poesie?
  • Warum lebt der Weihnachtsmann? Vielleicht darum, weil wir Weihnachten feiern? Und warum feiern wir Weihnachten?
Ungeachtet dessen, welche Bedeutung das Weihnachtsfest individuell hat und wie die Weihnachtstage individuell gestaltet werden, niemand kann sich innerhalb unserer Kultur diesem Brauchtum vollständig entziehen, selbst nicht Schwerkriminelle, die in dem berüchtigten Gefängnis San Quentin in Kalifornien einsitzen. Wir verbinden mit dem Gefängnis legendäre Konzerte von Johnny Cash. In dieser Tradition gibt der amerikanische Country Musiker Buzzy Martin interessierten Häftlingen über mehrere Jahre Gitarrenunterricht. Buzzy Martin berichtet in einem Interview, dass selbst die härtesten Jungs, die sich noch im Gefängnis mit Brutalo-Attitüden hervortun, zu Weihnachten ohne jede Peinlichkeit und mit glänzenden Augen voller Inbrunst 'Jingle Bells' und 'White Christmas' singen ('Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung' vom 25.12.2011).   

Was geht dort eigentlich vor sich? Offensichtlich hat das Weihnachtsfest den Charakter einer über Symbole repräsentierten sozialen Institution, die zumindest in unserer Kultur eng verwoben ist mit der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Soziologen sind sich weitgehend darin einig, dass Institutionen darum entstehen und langfristig mehr oder weniger modifiziert die Zeit überdauern, weil sie über Generationen hinweg funktionale Bedeutung für den Bestand von Kulturen haben. Diese Feststellung impliziert spannende Fragen (die möglicherweise nur Soziologen stellen oder als spannend empfinden):
  • Welche funktionale Bedeutung hat das Weihnachtfest für unsere Kultur?
  • Warum entfalten Symbole dieser Institution Wirkungen auf individueller Ebene?
  • Warum nimmt ein Individuum diese Wirkungen eher unbewusst als bewusst und eher emotional als rational wahr?
Die Rätsel, die in diesen Fragen stecken, sind harte Nüsse, die erst einmal geknackt sein wollen. Der Versuch ist jedoch die Mühe wert, weil sich einige in den Tiefen unserer Kultur verborgene Zusammenhänge zeigen, die in ihren aktuellen Überformungen nur noch schwer zu erkennen sind, aber nach wie vor ihre geheimnisvollen Kräfte entfalten. Unterstützung findet die Entschlüsselung dieses Rätsels dank eines Artikels von Thomas Hauschild in 'Die Welt' vom 23.12.2011: 'Warum es den Weihnachtsmann gibt.'  Thomas Hauschild ist Ethnologe und nähert sich der Antwort auf die von ihm gestellte Frage aus ethnologischer Sicht. Dieser Post folgt den Spuren des Artikels von Thomas Hauschild und ergänzt ihn um einige weitere Überlegungen und Recherchen.


Zentrale Symbole


Symbole repräsentieren in Form von Zeichen, Gesten oder Handlungen bestimmte Bedeutungszusammenhänge oder Vorstellungen, die Menschen miteinander teilen, ohne sie explizit aushandeln zu müssen oder sich der Bedeutungszuweisung bewußt sein müssen. Ausgehend von Émile Durkheim  besteht in der Soziologie die Vorstellung, dass über einfache Zeichensymbole hinaus die Mitglieder einer Gesellschaft über einen Vorrat an Kollektivsymbolen i.S. sozialer Stereotypen verfügen. Kollektivsymbole bilden über ein Archiv von Bildern ein System, mit dessen Hilfe die soziale Wirklichkeit gedeutet wird. Kollektivsymbole enthalten einen 'Bedeutungsüberschuss', der gerade darum seine Wirkung entfaltet, weil er für die Mitgliedern einer Kultur nicht unmittelbar sichtbar ist und unbewußt bleibt.

'Soziale Tatbestände', zu denen auch Kollektivsymbole zählen, wirken nach Auffassung von Soziologen unbewusst. Für Menschen, die in einer Kultur aufwachsen und in ihr leben, handelt es sich im sozialen Raum um gegebene Selbstverständlichkeit, vergleichbar mit Sauerstoff und Wasser als lebensnotwendige Ressource, die wir erst vermissen, wenn sie fehlt. Diese als 'Ethnozentrismus' bezeichnete Blindheit gegenüber den Artefakten der eigenen Kultur ist dafür verantwortlich, dass wir zwar Unterschiede fremder Kulturen wahrnehmen, aber aus der Perspektive unserer eigenen Kultur sehen und mit Kriterien der eigenen Kultur werten. Damit kommen wir zwangsläufig zu fehlerhaften Annahmen oder Schlußfolgerungen. Gegenüber externen Betrachtern, die aus einer fremden Kultur kommen, verbirgt sich ein kulturspezifische Bedeutungsüberschuss und wird darum nur mit speziellen Methoden erkennbar, z.B. mittels Sprachanalysen oder interkulturellem Vergleich von Mythen oder Märchen.

Gemäß diesen einleitenden Anmerkungen kommen wir den Antworten zu den eingangs gestellten Fragen nur näher, wenn es gelingt, den ethnozentristischen Blick auf die eigene Kultur bewußt zu machen und zu überwinden. Als analytische Methode eröffnet die Identifizierung zentraler Symbole einen erfolgversprechenden Weg unter der Voraussetzung, dass es gelingt, den Bedeutungsüberschuss der identifizierten Symbole zu isolieren.

In der Tat finden wir einige Kernsymbole, die seit vielen Generationen relativ unverändert im Kontext des Weihnachtsfestes auftreten und damit eine genauere Betrachtung motivieren:
  • der immergrüne Baum
  • der Gabenbringer, der in unterschiedlichen Gestalten auftritt, etwa als Weihnachtsmann, Nikolaus, Santa Claas, Väterchen Frost, Christkind, Krampus etc.
  • der Gabentausch. 

Der immergrüne Baum


Als Archetypus tritt der Baum in nahezu allen Kulturen in ähnlichen Bedeutungen auf. Bestimmten Baumarten werden oft spezielle mythische Eigenschaften zuerkannt. (Anmerkungen zum Begriff und der Bedeutung von 'Archetypen' im Post vom 10.12.2011)

In Wikepedia erfahren wir:
'Die Esche ist in der nordischen Mythologie der Weltenbaum Yggdrasil. In der griechischen Mythologie waren Eschen Feuerspender für die Menschen („Seither dachte er [Zeus] stets an den Trug und gab den Eschen nicht länger die Kraft unermüdlichen Feuers für sterbliche Menschen, die auf Erden wohnen.” (Hesiod: Theogonie. S. 562–565)). Nachdem Prometheus die Menschen geschaffen hatte, nahm ihnen Zeus zur Strafe das Feuer. Prometheus holte es aber dennoch wieder, indem er es heimlich in einem hohlen Narthexrohr an der Sonne entzündete und so den Menschen das himmlische Feuer brachte. (Theogonie. S. 535 ff.) Die Burssöhne in der germanischen Mythologie schufen aus der Esche den Mann und aus der Ulme die Frau.'

Über Kulturen hinweg lassen sich einige durchgängige Bedeutungen für Bäume isolieren:
  • Als 'mythischer Weltenbaum' ist der Baum ein Symbol für die Weltachse, um die sich der dreigeteilte Kosmos (Himmel, Erde, Unterwelt) gruppiert.
  • Als 'Lebensbaum' ist der Baum ein mythisch-religiöses Symbol über Vorstellungen von Fruchtbarkeit und Schöpfung.
  • Als 'Baum der Erkenntnis' ist der Baum ein Symbol des Erwachens und der Erleuchtung. 
Um Bäume rankt sich ein vielfältiges Brauchtum, bei dem oft auch Bäume geschmückt und in Liedern besungen werden:
  • Zur Geburt des Kindes ist ein Baum zu pflanzen.
  • Zum 1. Mai wird der Liebsten ein Maibaum aufgestellt.
  • Beim Richtfest eines neuen Hauses wird ein Baum oder Kranz auf den Dachstuhl gesetzt.
  • Unter der Gerichtslinde wurde Recht gesprochen.
  • Unter der Tanzlinde wurde gefeiert.
  • usw. 
Immergrüne Pflanzen oder Zweige symbolisieren Lebenskraft, Gesundheit oder die Hoffnung auf den zurückkehrenden Frühling. Der Maler Caspar David Friedrich und versteht wie weitere Zeitgenossen der Romantik die immergrüne Fichte als Verweis auf die Ewigkeit.

Der Weihnachtsbaum ist kein originär christliches Symbol, sondern ein viel älteres und weiter verbreiteteres Symbol, dessen Ursprünge im kulturellen Dunkel liegen. Aus diesem alten Brauchtum ist das Symbol des Weihnachtsbaums als eine Überformung entstanden. Der Prozess der Umwidmung findet im Mittelalter statt, in dem das Baumsymbol für das Weihnachtsfest adaptiert und zum Bestandteil des Weihnachtsbrauchs gemacht wird. Damit findet zugleich eine Konservierung von tief in in der Kultur verankertem Brauchtum und seiner Symbole statt.

Fazit:
Als weihnachtliches Symbol dürfte der Weihnachtsbaum primär für das Leben stehen. Der immergrüne und geschmückte Baum symbolisiert das Leben oder besonders im Winter die Hoffnung auf neues oder weiteres Leben.


Der Gabenbringer


In den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts zelebrierten konsumkritische Vertreter der katholischen Kirche in Dijon die theatralische 'Hinrichtung' eines verurteilten Weihnachtsmanns mittels Verbrennung. Den in der wissenschaftlichen Welt hoch angesehenen französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss provozierte dieser Akt zu einem Essay über den 'hingerichteten Weihnachtsmann'. Lévi-Strauss merkt an, dass mit der Verbrennung gerade der wahre Kern des Kultes angesprochen und bestätigt wird.

Alle großen Geschichtsentwürfe und Weltreligionen behandeln in ihrem Kern die ewige Wiederkehr des Gleichen. Auch Christus wird in jedem Kirchenjahr geboren, hingerichtet und ersteht wieder auf. Das Weihnachtsfest symbolisiert diesen Kreislauf des Werdens und Vergehens, über den die lange Kette der Ahnenreihe wächst und von dem unser kleines Menschsein bestimmt wird. Es beruht nicht auf Zufall, dass Feier- oder Gedenktage wie 'Allerheiligen', Allerseelen' oder 'Totensonntag' dem Weinachtsfest vorausgehen. In Erwartung des bevorstehenden Weihnachtsfestes beschließen wir das Jahr mit der Würdigung unserer Verstorbenen, denn Weihnachten ist das Fest der Geburt bzw. neuen Lebens, das uns mehr als eine Fortsetzung allen Lebens verspricht, nämlich eine bessere Welt, in der wir Erlösung finden.

Zu Weihnachten kehren die Ahnen in den unterschiedlichen Erscheinungen des Weihnachtsmanns kurzzeitig zu uns zurück, um uns Geschenke aus großer Ferne zu bringen. Sie kommen aus der seit ein bis zwei Millionen Jahren gewebten Kette der Toten und der Lebenden, in der auch die aktuell Lebenden stehen, die ihr Menschsein an ihre Kinder weitergeben. Jedes Jahr kehren die Toten in die Gesellschaft ein und bedrängen uns mit ihren Geschenken, mahnen zu Solidarität und Großzügigkeit, um dann wieder im Nichts zu verschwinden, zu sterben, und sei es in der Form einer Hinrichtung.

Die Deutung des Weihnachtsmanns als ein Vermittler, der uns aus dem Totenreich unserer Ahnen besucht, ist vermutlich eine besonders fremde und darum schwer verständliche Vorstellung, die Proteste provozieren wird. Aber ist es nicht so, dass wir an Weihnachten vor allem den Blick rückwärts richten in Zeiten, zu denen noch die Eltern oder Großeltern lebten, die Kinder noch klein waren oder wir selbst noch Kinder waren? Gedenken wir nicht gerade an Weihnachten besonders intensiv unserer gerade Verstorbenen? Und behaupten wir nicht schon immer, dass der Weihnachtsmann oder das Christkind etc. aus dem Himmel zu uns kommt, in dem wir unsere Ahnen vermuten, die von dort auf uns schauen und die wir einst wiederzutreffen hoffen? Und sind nicht gerade zu Weihnachten die Kirchen so voll wie sonst nie, weil die Menschen über religiöse Traditionen in ritueller Form Verbindung zu ihren Ahnen herstellen?

Fazit:
Der Weihnachtsmann ist ein Abgeordneter unserer Ahnen und stellt die Verbindung zwischen ihnen und uns her.


Geschenke und Gabentausch


Der für uns zunächst recht einfach erscheinende Sachverhalt des Austauschs von Geschenken erweist sich bei genauerer Betrachtung als ein vielschichtiges, komplexes Phänomen. Im Akt des Gabentauschs werden zwischen Schenkendem und Beschenktem Kräfte einer archaischen Wunschmagie wirksam, die einerseits auf eine magische Wunscherfüllung abzielen, mit der andererseits mittels des Zaubers eines Geschenks der Beschenkte gefügig wird bzw. in Schuld oder Abhängigkeit gerät. Der Gabenaustausch erweist sich daher weder als Akt selbstloser Großzügigkeit oder altruistischer Motivation, sondern basiert auf rationalen Kalkülen, die sich der Magie des Schenkens bedienen. Im Geschenk mischen sich vermeintlich altruistische und offensichtlich egoistische Motive, Großzügigkeit und Nutzenerwägungen, Nächstenliebe und Eigenliebe. Für eine als Geschenk überreichte Gabe lässt sich eine Gegengabe nicht erzwingen. Es ist die dem Geschenk anhaftende Magie, die dafür sorgt, dass mich die guten Gaben erreichen und bereichern, wenn ich selber großzügig schenke.

Zu Weihnachten verteilte Geschenke benötigen eine festliche Verpackung. Der Inhalt bleibt zunächst verborgen, er muss eine Überraschung sein und soll möglichst unsere innigsten Wünsche treffen. Das Schenken darf nur zu einem bestimmten Termin in einem festgeschriebenen Moment stattfinden. Damit ist sichergestellt, dass die Überraschung allen gleichzeitig offenbart wird. Diese ritualisierte Form des Geschenkaustauschs ist nicht nur Ausdruck der Magie von Geschenken, sondern sie erlaubt auch eine spontane erste Überprüfung der Magie des Geschenks auf ihre Wirksamkeit.

Gegen die Annahme des Geschenks kann sich niemand wirklich wehren. Der Beschenkte gerät zunächst in eine Schuld. Um diese möglichst bald wieder loszuwerden, sieht er sich zu einem Gegengeschenk veranlasst, das möglichst großzügig sein soll, um Peinlichkeit aufgrund eines zu kleinen Geschenks zu vermeiden. Andererseits wird der Schenkende sein Geschenk üblicherweise so dimensionieren, dass die Größenordnung zum Beschenkten passt und dieser die Chance zu einer angemessenen Gegengabe hat. Um Unsicherheiten auszuschließen, werden gerne auch vorab die Größenordnungen vereinbart. Eine Verletzung von Regeln der Gegenseitigkeit nimmt nicht nur der im Austausch Unterlegene als einen Gesichtsverlust wahr, sondern über unangenehme emotionale Dysbalance hinaus können aus solchen Regelverletzungen schwerwiegende Störungen mit weitreichenden Konsequenzen im sozialen Beziehungsnetz resultieren. Ist ein symmetrischer Austausch verhindert, verwandelt die Verpflichtung zur Gegengabe ein Geschenk zu einer Schuld mit ggf. weitreichenden Folgen.

Der polnische Sozialanthropologe Bronislaw Malinowski (1884-1942) gilt als Pionier wissenschaftlicher Feldstudien und als ein Begründer des funktionalen Konzeptes, gemäß dem soziale Phänomene nicht aus der Geschichte, sondern aus ihrer Funktion innerhalb eines sozialen Kontextes erklärt werden müssen. Mit seinen auf den Trobiand-Inseln in der Salomonsee durchgeführten ethnologischen Feldstudien hat uns Malinwoski hinsichtlich der sozialen Funktion des Schenkens die Augen geöffnet. 'Geschenke' sind eine Art von 'Kredit', mit dem der Beschenkte eine Rückerstattungsverpflichtung eingeht. Es entstehen Gläubiger-Schuldner-Verhältnisse, die wir vielleicht darum ungerne so benennen, weil sie unangenehm sind. Die Verpflichtung auf der Schuldnerseite macht die Entgegennahme von 'Geschenken' oft schwer oder motiviert auch zur Vermeidung einer Entgegennahme, wenn die Rückzahlungsverpflichtung nicht geleistet werden kann. Auf der Gläubigerseite verpflichtet das 'Geschenk' als Kredit den Schuldner solange zu Wohlverhalten, bis die Rückzahlung geleistet ist. (Am Rande sei angemerkt, dass Malinowski als weiteres Ergebnis seiner Studien Freuds Annahmen über universelle Entwicklungstrukturen menschlicher Sexualität wiederlegen konnte.) 

Welche Extreme derartige Beziehungsstrukturen annehmen können, zeigt der rituelle Geschenkaustausch in Form des 'Potlatch' bei indianischen Stämmen an der nordamerikanischen Westküste. Dort regelt der 'Potlatch' die soziale Rangfolge in der Gemeinschaft. Überdimensionierte Geschenke zwingen Beschenkte in eine nicht mehr auflösbare Schuld. Die Unterlegenheit im Geschenkaustausch hat eine soziale Unterwerfung zur Folge. Wenn diese Schmach nicht auszuhalten ist, bleibt nur noch der Selbstmord als Konsequenz.

In unserer Kultur treten solche extremen Konsequenzen nicht auf. Die Gefahr von Gesichtsverlust besteht aber auch hier. Wenn Geschenke von Eltern an ihre Kinder mit zunehmender Selbständigkeit der Kinder nicht kleiner, sondern immer größer werden und die Eltern gleichzeitig keine oder nur kleine Gegengeschenke erwarten, erinnern die Motivationen durchaus an den 'Potlatch'. Die Eltern erwarten vermeintlich für ihre großzügig bemessenen Geschenke zunächst keine materiellen Gegengaben. In Anbetracht der sich abzeichnenden Umkehrung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Eltern und Kindern bei zugleich zunehmendem Kontrollverlust von Eltern über ihre Kinder richtet sich die Erwartung der Eltern durchaus egoistisch auf die Unterwerfung und das Wohlverhalten der unabhängiger werdenden Kinder.

Da zwischen Erwachsenen und Kindern ein symmetrischer Gabentausch nicht möglich ist, muss auch der Kreditcharakter verborgen werden. Gegenüber kleineren Kindern, die noch keine Schuld begleichen können, verschleiern die Schenkenden sowohl Gabengeber als auch Herkunft von Gaben. Die Geschenke bringt den Kindern der Weihnachtsmann, das Christkind, der Nikolaus etc. aus einem nicht weiter spezifizierbaren Himmel auf die Erde. Der Gabenspender wird anonymisiert. In Anbetracht der Umkehrung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Eltern und Kindern in ferner Zukunft sind Geschenke der Eltern an ihre Kinder eine Investition in die eigene Zukunft des noch fernen Alters bzw. Ausdruck der Erwartung, dass die Geschenke zurückkehren werden, wenn sich die eigene Bedürftigkeit einstellt. Zugleich verweist dieser spezielle Aspekt des Gabentauschs auf magische Kräfte, die an dem Geschenk haften und darum erst den rituellen Gabentausch vom gewöhnlichen Austausch oder Handel abheben.

Der Austausch von Geschenken stiftet auf diesem Wege Vertrauen und Bindungen zwischen Menschen und kann darum als eine Urform externer  sozialer Beziehungen gelten, die erst das Entstehen von Kultur ermöglicht. Neben Malinowski macht insbesondere der französische Soziologe Marcel Mauss (1872-1950) in seinem epochalen Werk "Die Gabe" ("Essay sur le don", 1923/4) deutlich, dass der Austausch von Geschenken eine Vorform, wenn nicht sogar die Urform des Handels ist, die auch unter den Bedingungen eines bereits etablierten Handels nicht ihre Funktion eingebüßt hat. Selbst dann, wenn ein Warentausch per Handel üblich geworden ist, stellen wir mit Geschenken noch immer Wohlwollen her bzw. prüfen wir zunächst gemäß dem Motto 'Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser', ob sich ein Handelspartner an die Regeln der Gegenseitigkeit hält. Ist das nicht der Fall, vermeidet man besser Geschäfte miteinander.

Aus diesem (unbewussten) Grund ist der Austausch von Geschenken, Grüßen und guten Wünschen zu Weihnachten auch unter ökonomisch-rational orientierten Geschäftspartnern in vielen Kulturen üblich. Wenn festzustellen ist, dass der Wert von Geschenken zwischen Geschäftspartnern in unserer Kultur seit einigen Jahren abnimmt, ist diese Tendenz einem verschärften Steuerrecht geschuldet, das steuerliche Grauzonen zu reduzieren versucht. Die Bedeutung eines Austausch von Geschenken zwischen Geschäftspartnern variiert im übrigen über den kulturellen Kontext. Was in einem Land als Pflicht gilt, mag in einem anderen Land ein als Korruption verachtetes und vielleicht sogar strafbares Fehlverhalten sein. In vielen Ländern liegt die Bedeutung des Geschenkaustauschs im Geschäftsleben zwischen diesen Polen. Die Nähe zur Korruption lässt vermuten, dass die in einem Land übliche Qualität der Bewertung mit dem Korruptionswahrnehmungsindex korreliert, der seit 1995 von der Organisation 'Transparency International' für 180 Länder erhoben wird: Link zum Wikipedia-Artikel über den Korruptionswahrnehmungsindex

Auch wenn wir uns die magischen Kräfte von Geschenken nicht bewusst machen, ist uns klar, dass eine Gabe nur dann ein wirkliches Geschenk ist, wenn sie für den Empfänger etwas Besonderes ist und ihn positiv überrascht oder besser noch überwältigt, ja, auch verzaubert. Wenn mein Geschenk den Beschenkten verzaubert, darf ich darauf hoffen, auch selbst an diesem Zauber teilzuhaben. Weil wir diese Magie unbewusst spüren, zeigen wir uns großherzig und legen soviel Sorgfalt in die Vorüberlegungen, den Einkauf, die Verpackung und schließlich auch das Überreichen von Geschenken.

Wie stark die Kraft dieses Zaubers auf emotionales Befinden einwirken kann, beschreibt der österreichische Schauspieler und Schriftsteller Joachim Meyerhoff in einer autobiographischen Erzählung ('Welt am Sonntag' vom 25.12.2011). Als Kind begleitete Meyerhoff seinen Vater, der Direktor einer psychiatrischen Einrichtung war, auf dem weihnachtlichen Weg durch die Abteilungen der Klinik, wo es in jeder Abteilung eine Bescherung mit kurzer Weihnachtsfeier gab:

'Nach einer kurzen Pause, in der die Patienten vom Anblick des Weihnachtszimmers wie paralysiert schienen, stürzten sie sich völlig entfesselt auf die Geschenke. Zerfetzten das Geschenkpapier mit den Zähnen und dann, keine fünf Minuten später, war fast alles kaputt. Vor Freude, vor unkontrollierbarer Glückseligkeit, vor totaler Geschenkbegierde. Kaputt! Puppenarme wurden ausgekugelt, Stofftieren der Bauch aufgerissen. Der neue Anorak schon zerfetzt. Und mit derselben ungehemmten Begeisterung, mit der eben noch das lackrote Feuerwehrauto auf die Tischkante geschlagen wurde, wurde nun mit fassungslosem Schmerz der Trümmerhaufen beweint. In nur fünf Minuten vom Weihnachtszimmer zum Trümmerfeld (...). Überall wurde gefeiert und getrauert, sich geprügelt oder samt Geschenk gewälzt. Die Pfleger taten ihr Bestes. Verhinderten in letzter Sekunde, dass jemand den herrlichen Tannenbaum umarmte oder eine Marzipankartoffel gegen ein Fahrrad getauscht wurde.'

Die Patienten dieser psychiatrischen Einrichtung haben offensichtlich keine 'Sozialisation' erfahren (als 'Sozialisation' wird der Prozess der Aneignung kultureller Muster bezeichnet, durch den erst die Teilnahme an einer Kultur möglich wird), sie sind nämlich nicht mit den kulturellen Regeln des weihnachtlichen Gabentauschs vertraut. Der Zauber der Geschenke trifft ohne jede kulturelle Vermittlung und Zügelung ihr emotionales Zentrum, so dass sie einen vollständigen Kontrollverlust erleiden. Der Verstand setzt aus, und die ungebremste emotionale Erregung entfaltet ihre dionysische Kraft. Nach Vollendung des Zerstörungswerks überkommt die Patienten tiefe Trauer.

Wenn Meyerhoff das weihnachtliche Geschehen in der Klinik als Tragödie beschreibt, mag auch ein wenig der Schaupieler in ihm gesprochen haben. Dass mit der Gabenverteilung starke Emotionen einhergehen, bestätigt Meyerhoff in seinem Bericht aber auch in einer zweiten Begebenheit. Diese beschreibt starke negative Emotionen, die aus dem Dissenz zwischen eigenem Wunsch oder eigener Erwartung einerseits sowie dem überreichten oder empfangenen Geschenk andererseits hervorbrechen und ebenfalls einen Kontrollverlust auslösen. Der Kontrollverlust fällt jedoch in dieser Begebenheit schwächer als bei den Patienten aus, weil die Protagonisten der Begebenheit an einer kulturell üblichen Sozialisation teilgenommen haben:

'Ein einziges Mal gab es jedoch auch in unserer Familie eine - allerdings sehr kurze - Weihnachtseskalation, einen nur wenige Sekunden andauernden gutbürgerlichen Gewaltausbruch. Dem eigentlichen Ereignis ging eine ausufernde Rede meines Bruders voraus, ausgelöst durch das eben ausgepackte "Trivial Pursuit"-Spiel, in der er die Geschenkpraxis meiner Eltern anprangerte. (...) "Warum schenkt ihr mir eigentlich nie das, was ich mir wünsche? Ich habe mehrmals mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass ich dieses Jahr zu Weihnachten gerne Bargeld bekommen hätte. Immer schenkt ihr einem Geschenke, die unterschwellig irgendeine pädagogische Absicht verfolgen. Solange ich denken kann, bekomme ich Geschenke, die mich irgendwie formen oder weiterbilden sollen. Mit Fischertechnik fing es an, um meine taktilen Fertigkeiten zu trainieren, dann immer Bücher, Bücher, Bücher! (...) Mit Schrecken erinnere ich mich daran, wie ich mir eine Eismaschine gewünscht und einen Füller bekommen habe. Ich habe von Unmengen selbst gemachtem Erdbeer- und Schokoladeneis geträumt und dann lag da dieser Scheißfüller!"

Nach dieser Ansprache packte meine Mutter das Geschenk meines Vaters aus und traute ihren Augen nicht. "Ein elektrisches Messer. Für Fleisch und Brot", sagte mein Vater. Meine Mutter hielt wiegend ihr Geschenk in der Hand. Noch am selben Abend zerteilte sie mit diesem ratternden Messer den ungewaschenen Pansen für unseren Hund. Als mein Vater das sah, riss er ihr das Messer aus der Hand, rannte ins Weihnachtszimmer, warf wutentbrannt seinen Gabentisch um, um an die Steckdose zu kommen und sägte ungeschickt in den Schuber der Gesamtausgabe Adalbert Stifters, die meine Mutter ihm geschenkt hatte. Die Klinge fraß sich im Karton fest, mein Vater ließ das Messer stecken und rannte aus dem Zimmer.' 

Aufgrund der symbolischen Überschussbedeutung, die erst einen Gegenstand zu einen Geschenk macht, erhält der zum Geschenk deklarierte Gegenstand seinen Geschenkcharakter erst im sozialen Austausch. Ein Geschenk, das ich mir selbst bereite, befreit mich zwar von allen mit einem Geschenk einzugehenden Risiken, aber im sozialen Sinne handelt es sich tatsächlich auch nicht mehr um ein Geschenk, sondern um Konsum. Wenn wir uns trotzdem beschenkt fühlen, weil wir uns selbst Gutes tun oder Luxus leisten, gelingt es uns offenbar mitunter, mittels Konsum einen emotionalen Effekt zu provozieren, den wir Geschenken zuschreiben, nämlich uns vorübergehend zu verzaubern. In Wahrheit geht es um eine Ersatzhandlung. Geheime Wünsche des Beschenktwerdens entstehen aus dem Wunsch nach besonderer Würdigung oder Überhöhung der eigenen Person und ihrer Leistungen. Wenn diese Wünsche keine Erfüllung finden, obwohl ich mich für würdig halte, verschafft die Selbstbeschenkung einen zwar nicht vollwertigen Ersatz, aber ich schütze immerhin mein Selbstwertgefühl.

Ein letzter Blick gilt dem 'Wichteln' als einer Sonderform des Geschenkaustauschs. 'Wichteln' kann als Versuch verstanden werden, zwar den Traditionen Genüge zu tun, aber gleichzeitig alle Risiken und mögliche Spätfolgen des Geschenkaustauschs auszuschalten. Im Akt des 'Wichtelns' werden Geschenke mittels Anonymisierung und wertmäßiger Vereinheitlichung von ihrem Bedeutungsüberschuss befreit. Bestenfalls wird Spaß vermittelt, Ärger ist ebenso möglich. Aber da die Risiken klein sind, verflüchtigen sich auch bald die Folgen eines ge- oder misslungen Wichtelgeschenks. Ohne die sozialen Funktionen des Gabentauschs bleibt lediglich ein sinnentleerter Ritus übrig. In diesem Kontext von "Geschenk" zu sprechen, verfehlt den Charakter von Geschenken.  

Fazit:
Der rituelle Gabentausch erzeugt oder vertieft sowohl zwischen symmetrischen wie auch zwischen unsymmetrischen sozialen Beziehungen Bindungskräfte, auf deren Basis soziale Kooperation möglich wird. Ein Geschenk repräsentiert die Magie einer Kraft, die über große Zeiträume und Entfernungen erhalten bleibt. Die Magie bewirkt, dass ein Geschenk vom Beschenkten zum Schenkenden mit Zinsen zurückkehrt, ohne dass die am Austausch Beteiligten ständig interagieren oder gar eine Gegengabe reklamieren. Im Ergebnis initiiert der rituelle Gabentausch soziale Kooperation.


Warum feiern wir Weihnachten?


Die vorausgegangenen Überlegungen zu Kollektivsymbolen und ihrem Bedeutungsüberschuss zeigen zusammen mit den dargestellten sozialen  Mustern auf, dass die Bedeutung des Weihnachtsfestes über seinen religiösen Kontext hinausweist. Der religiöse Kontext ist lediglich der sichtbare Teil des Weihnachtsfestes, sozusagen die Spitze eines Eisberges. 90 % der Masse (=  Bedeutungsüberschuss) verbergen sich jedoch unter der Wasseroberfläche eines sozialen Kontextes, der mittels kultureller Muster und Mechanismen eine plastische Dauerhaftigkeit erlangt.

Ohne es vielleicht schlüssig begründen zu können, ahnen wir bereits im Alltagsdenken, dass das Weihnachtsfest wichtig für soziale Beziehungen ist. Diese Tradition benötigt offenbar keine religiösen Wurzeln und vermutlich sind die Wurzeln dieser Tradition auch nicht religiöser Art. Der Anteil von Religion ist für das Weihnachtsfest als soziale Institution letztlich nur von nachrangiger Bedeutung und nicht mehr als ein austauschbares Deutungsmuster. Obwohl Religiosität als Lebenshaltung insgesamt zurückgeht, wird damit auch erklärbar, weshalb weltweit eine zunehmende Bedeutung des Weihnachtsfestes über Kulturen und Religionen hinweg zu beobachten ist.

Zu Weihnachten sind wir per Tradition aufgerufen, uns gegenseitig zu versichern, dass die soziale Gemeinschaft, die Grundlage jeder Kultur, tatsächlich lebt. Gleichzeitig erneuern und festigen wir unsere soziale Gemeinschaft für ein weiteres Jahr. Diese Funktionalität aus Sicht sozialer Systeme basiert auf kollektiven Handlungen individueller Akteure. Diesen geht es persönlich nicht um die Integration oder den Erhalt sozialer Systeme. Sie wissen nicht einmal darum und benötigen dieses Wissen auch nicht. Sie verfolgen ihre vermeintlich eigene, individuelle Motivation.

Tatsächlich sind diese Motivistrukturen auf der Ebene individueller Akteure ein Destillat des Sozialgefüges (der 'sozialen Strukturen') gemäß der Einsicht, dass das Leben (d.h. die sozialen Strukturen, in denen wir leben) das Bewusstsein bestimmt. Derartige Einsichten mögen uns persönlich unsympathisch sein, weil sie unserer Illusion von Entscheidungsfreiheit widersprechen. Emotional beunruhigender und rational schwerer verständlich ist jedoch die komplementäre Konsequenz auf der Gegenseite. Wenn ein Sozialgefüge mittels Kultur den Korridor angemessener Verhaltensweisen inkl. Gratifikationen für Wohlverhalten und Sanktionen für Fehlverhalten vorgibt, resultiert dieser Einfluss aus Kräften, die wir nicht wirklich erklären können.

Erklärungsmodelle beschränken sich auf den Weg und die Methoden der Vermittlung kultureller Regeln. In einem als 'Internalisierung' bezeichneten Prozess gehen demnach die kollektiven Regeln und Verhaltensmuster einer Kultur per 'Sozialisation' in die Motivationsstruktur des eigenen Handelns ein und lassen das Individuum glauben, seine ureigenen Entscheidungen zu treffen. Wenn wir uns von einem 'Gewissen' oder dem Freud'schen 'Über-Ich' zu einem bestimmten Verhalten gedrängt fühlen, handelt es sich um einen Reflex dieser sozialen Mechanismen.

Das Weihnachtsfest erlangt für uns als individuelle Akteure seinen besonderen und stark vom Alltag abgehobenen Status, weil wir traditionelle kultische Handlungen zelebrieren, die der Poesie über Werte des Wahren, Guten und Schönen entlehnt sind und damit nicht nur die wirklichen Motivitationen überdecken, sondern auch rational nicht begründbare emotionale Befindlichkeiten mit rationalen Kalkülen zu einem nicht mehr trennbaren Amalgam mischen, das eine eigene Qualität annimmt.

Zentraler Ritus ist der Gabentausch, mit dem wir uns des wechselseitigen Vertrauens versichern, neue Bindungen aufbauen und bestehende Bindungen verstärken. Wir treten aus dem Alltag heraus, suchen den Frieden, singen gemeinsam Lieder und lassen die Kinder Gedichte rezitieren. Wir gedenken der Ahnen und erinnern uns damit zugleich an unsere eigene Sterblichkeit. Nach den traditionellen Riten genießen wir gemeinsam ein festliches Mahl, denn auch das Leben will gelebt sein. Der festlich geschmückte Baum stellt symbolisch die Verbindung zum Leben her, das wir uns unter dem Schutz der Ahnen glanzvoll und erfolgreich auch in Form materieller Werte wünschen.

Uns selbst, die wir mit dieser Tradition aufgewachsen sind, ist kaum bewusst, dass wir einen Kult zelebrieren. Ein absolut kulturfremder Besucher, der erstmals an Weihnachtsfeierlichkeiten teilnähme, würde sich dagegen verwundert fragen, was dieser für ihn völlig unverständliche Kult wohl bedeuten mag. Vermutlich würde es uns nicht leicht fallen, die Bedeutung zu erklären. Wir machen es einfach so, weil wir es so kennen und die Tradition es so verlangt wie es schon immer war. Und indem wir uns der Tradition erinnern und sie pflegen, verspüren die Teilnehmer der gemeinsam Feiernden tiefe Verbundenheit und inneren Frieden. Diese entrückte feierliche Stimmung, in der ein Einzelner sich als Teil des Ganzen erlebt, lässt die Probleme des Alltags und der Welt um uns als etwas Äußerliches erscheinen, das durchaus unangenehm sein kann, aber in diesem Moment keine wirkliche Relevanz hat.

Fazit:
Als universelles Phänomen hat Religion in vielen westlichen Kulturen eine Verschiebung seiner funktionalen Bedeutung vom öffentlichen Raum auf die Privatsphäre erfahren. Mit diesem Bedeutungswandel gehen Verluste der sozialstrukturellen Relevanz von Religion einher. Die Tradition des Weihnachtsfestes ist dagegen nicht nur ungebrochen, sondern scheint sogar an Bedeutung zu gewinnen. Die Tradition des Weihnachtfestes erfährt offensichtlich über alle sozialen Schranken von Kulturen hinweg eine Fokussierung. Mit der Zelebrierung traditioneller Riten vergewissern wir uns unserer archetypischen kulturellen Grundlagen, die entwicklungshistorisch älter sein dürften als Religionen. Religionen haben vermutlich diese elementaren gemeinsamen sozialen Überzeugungen und Regeln adaptiert.

Der vorliegende Post basiert implizit auf der Annahme, dass trotz oder gerade wegen zunehmender sozialer Differenzierung der Bedarf an integrierenden sozialen Traditionen nicht nur erhalten bleibt, sondern vermutlich eine stärkere Fokussierung erfährt. Im Kontext dieses Post bleiben weitere und hoch interessante Fragestellungen unbeantwortet, die lauten könnten:
Lässt sich zeigen, ob und wie stark ggf. die funktionale Bedeutung des Weihnachtsfestes entwicklungshistorisch (a) über zunehmende soziale Differenzierung sowie (b) über die Bedeutungsverschiebung von Religion variiert?
Die Suche nach Antworten auf Fragen dieser Art könnte eine Aufgabe zum nächsten Weihnachtsfest sein.

Der Ethnologe und Religionswissenschaftler Thomas Hauschild, Autor des Artikels in 'Die Welt' vom 23.12.2011, kündigt für Ende 2012 die Veröffentlichung eines neuen Buches an: 'Der Weihnachtsmann. Die wahre Geschichte'. Für uns ist das angekündigte Buch ein Kandidat eines Geschenkes an uns selbst.

(Das Buch ist inzwischen im S. Fischer Verlag in der Reihe 'Wissenschaft' erschienen und kann Interessierten als äußerst instruktiv empfohlen werden.)

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